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Alle wollen was von mir – nur ich selbst komme nicht dazu

Vera, 52, kommt erschöpft in die Beratung. „Meine Freundin will mit mir eine Shoppingtour nach Paris machen. Meine Chefin nervt jeden Tag, dass der Abschlussbericht auch wirklich pünktlich fertig werden muss. Mein Mann will im nächsten Jahr Marathon laufen und braucht mich als Trainingspartnerin. Meine Mutter erwartet, dass ich nicht nur jeden zweiten Tag anrufe, sondern auch mindestens zweimal in der Woche bei ihr auftauche, meine Ärztin will, dass ich mich mehr entspanne, mein … „. Ich unterbreche sie: „Und was wollen Sie?“. Vera holt tief Luft. „Ich will -„, fängt sie an. Dann schaut sie mich erschrocken an. „Ich weiß es nicht!“

Das, was Vera erlebt, ist typisch für Frauen in der Lebensmitte. Sie stehen mitten im Leben, haben häufig auf der einen Seite Kinder, um die sie sich kümmern wollen, auf der anderen Seite Eltern, die mehr Aufmerksamkeit, Unterstützung und manchmal auch Pflege brauchen. Sie haben einen Job, in dem sie den Anforderungen gerecht werden wollen, einen Partner oder eine Partnerin, einen Freundeskreis, ein Ehrenamt, die Nachbarschaft und dann ist da auch noch der Haushalt. Und zu all den äußeren – oder auch inneren – Ansprüchen kommen dann auch noch die Wechseljahre. Lassen die Frauen nicht mehr gut schlafen, belasten sie mit Gelenkschmerzen oder Hitzewallungen und sorgen durch das Auf und Ab der Hormone für eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Kein Wunder, dass dann die Frage: „Was wollen Sie?“ nicht beantwortet werden kann.

Vera und ich begannen, uns auf die Reise zu ihren Wünschen zu machen. Wie so viele Frauen listete auch sie erst einmal Wünsche auf, die nicht wirklich ihre eigenen waren. „Ich würde gerne mal wieder ein paar Freunde zum Essen einladen“ – dieser Wunsch klang z.B. zunächst harmlos. Aber beim genaueren Nachfragen stellte sich dann heraus: sie wird zwei Tage komplett beschäftigt sein, um ihren Freunden zu beweisen, dass sie immer noch die beste Köchin und Gastgeberin ist. Ist das wirklich ihr eigener Wunsch? Oder ein alter Glaubenssatz aus der Kindheit? Ein übertragener Wunsch ihres Mannes? Ihr eigener Wettkampfgeist, der mit jemanden aus dem Freundeskreis konkurriert?

Häufig zählen die Frauen auch Wünsche auf, die sehr sinnvoll erscheinen: „Ich würde gerne wieder regelmäßig zum Sport gehen“ oder „Ich würde gerne mal ein Wochenende alleine wegfahren“. Die Buchstaben des letzten Wortes schweben noch in der Luft, da wird schon das große ABER herausgeholt: „Aber ich muss mich ja um … kümmern, erst muss noch … erledigt werden, das geht nicht, weil …“. Ein typisches Verhalten von Frauen, die ihre eigenen Wünsche nach hinten stellen, die ihr Umfeld nicht damit behelligen wollen, dass sie auf einmal „anstrengend“ sind, nur weil sie vielleicht zwei Stunden die Kinderbetreuung oder mal den Wochenendeinkauf abgeben wollen.

Die Wechseljahre sind eine Zeit, in der viele Frauen mit diesem Thema konfrontiert werden. In der sie erkennen, dass sie jetzt mehr Zeit und Kraft für sich selbst brauchen. Und dass diese Zeit und Kraft nur dann vorhanden ist, wenn sie nicht schon durch die Ansprüche anderer Menschen aufgebraucht wird.

Vera war eigentlich wegen ihrer Erschöpfung in die Beratung gekommen. Sie hatte gehofft, dass ein paar Pillen, Kräuter oder ätherische Öle ihr wieder die Energie für ihren Alltag geben könnten. Ein paar Tipps in dieser Richtung bekam sie von mir. Aber das, was ihr wirklich die Energie zurückbrachte, war eine ehrliche Aufarbeitung: Welche Ansprüche werden an mich gestellt? Von wem? Will ich sie erfüllen? Und was will ich selbst?